Emotionaler Missbrauch
– und keiner hats bemerkt. Und ich meine tatsächlich keiner!
Nicht mein Umfeld, nicht ich und ja noch nicht mal meinen Eltern selbst war es klar.
Ich denke, in meinem Umfeld haben schon Menschen bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt – aber so richtig zuordnen konnte das keiner. Von emotionalem Missbrauch war damals – in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts noch kaum die Rede.
Die gsunde Watschn war gang und gebe, Kinder hatten ruhig zu sein, am besten nicht nur wenn Erwachsene redeten.
Und überhaupt mischte man sich nicht bei anderen ein.
Aber auch ich selber hatte keine Ahnung. Ja, vieles war seltsam, ich hatte ungewöhnliche Gedanken und dass man sich nicht allzusehr um mich kümmerte war mir auch klar – aber ich hatte doch ein Dach über dem Kopf, habe meistens alles bekommen was ich wollte (zumindest Materielles), wir hatten genug zu essen und auch Urlaub war immer drin. Wir waren nicht arm – beide Eltern verdienten gut – allerdings auch nicht reich.
Gediegene Mittelschicht eben. Tatsächlich fühlte ich mich so reich und priviligiert, dass es mir Angst machte: Wenn es mir heute so gut ging, konnte dass ja nur bedeuten, dass ich irgendwann bittere Armut erleben musste. Man bekam ja nix geschenkt im Leben, oder?
Aber auch meine Eltern – die „Täter“ – haben es nicht bemerkt.
Lange Zeit habe ich es ihnen übelgenommen, heute ist mir letztendlich klar, dass sie nichts von allem mit böser Absicht getan haben, ja dass es ihnen noch nicht einmal bewusst war.
Naja, zumindest nicht alles.
Und nicht von Anfang an.
Das Schlimmste an emotionalem Missbrauch
Das Schlimmste an emotionalem Missbrauch ist meiner Meinung nach genau das. Dass man es nicht bemerkt.
Wird ein Kind geschlagen oder muss es sexuellen Missbrauch erleben, dann merkt es früher oder später, dass da etwas nicht stimmt. Es bekommt mit, dass Freunde in ihren Familien nicht geschlagen werden, und irgendwann ist auch klar, dass sexuelle Handlungen von Erwachsenen an Kindern nicht normal sind.
Bei psychischem Missbrauch ist das lange nicht klar. Im Gegenteil, viele emotional missbrauchte Kinder finden nie heraus, dass ihnen Unrecht widerfahren ist. Im schlimmsten Fall geben sie diese Verhaltensweisen an ihre eigenen Kinder weiter und schädigen diese genauso, wie sie geschädigt wurden, ohne es zu wissen.
„So eine Ohrfeige dann wann hat mir nie geschadet“
Naja, sagen wir so, geholfen hat sie mir auch nicht gerade.
Aber auch von Ohrfeigen wusste man irgendwann, dass sie nicht okay sind – selbst wenn sie gar nicht weh tun, wie die von meiner Mutter zum Beispiel. Die von meinem Vater waren da schon schmerzhafter, wenngleich auch seltener.
Viel schlimmer war das Gefühl im Weg zu sein, zu stören und zu nerven. Kinder sollten ja eigentlich nur reden, wenn sie was gefragt werden, oder? Sätze wie: „Ohne dich wär mein Leben viel einfacher“ und „Krieg bloß nie Kinder, das versaut dir dein ganzes Leben!“, die das unterstrichen.
Letzendlich waren meine Eltern schlichtweg überfordert. Überfordert mit sich selbst, ihrem Leben, ihrer Beziehung zueinander, und natürlich überfordert damit ein Kind großzuziehen.
Mein Papa, der sich einfach mit einem kleinen Kind nix anzufangen wusste und sich deshalb lieber im Hintergrund hielt. Seine Rolle war die Bestrafung – „Na wart nur, bis der Papa heimkommt“ hieß es oft. Und der Papa hat sich den Schuh angezogen und war der Böse. Der, der immer „nein“ sagt, der der schimpft und bestraft und sich sonst raushält.
Oh ja, ab und an mal hat er es dann schon versucht.
Leider war es einfach immer zu viel. So wie die 30 km Fahrradtour mit einer übergewichtigen unsportlichen 10jährigen auf einem Klapprad ohne Gänge, wenn man noch dazu selbst auf einem 7-Gänge-Rad sitzt. Und die das danach nie wieder machen wollte.
Und ja, kitzeln und toben ist toll – sofern man aufhört, bevor das Kind plärrt …
Ich denke er nahm an, dass er mir mit seiner Strenge etwas Gutes tut.
Aus „Na wart nur bis der Papa heimkommt“ wurde später: „Der Papa ist gemein zu mir, der kümmert sich nicht um uns, der interessiert sich nicht für uns.“ Und schließlich: „Der Papa betrügt mich, Männer generell sind wertlos, schlecht und überhaupt hält man sich da besser fern“
Schon mit 7 war ich ein typisches Schlüsselkind, musste alleine aufstehen und zur Schule gehen.
Frühstück gabs keines, Mittagessen gabs in der Schule, zum Abendessen gab es eine Tafel Schokolade.
Ich hatte übrigens immer echt Angst, dass meine Eltern sterben würden. Das haben vielleicht viele Kinder, aber mein Hauptbeweggrund war, dass ich wusste man würde Trauer von mir erwarten, und ich wusste ich könnte sie nicht in angemessenem Maße empfinden. Gleichzeitig war mir schon mit neun klar, dass das ein seltsamer Gedanke war.
Eine furchtbare Kindheit?
Natürlich sind das nur Auszüge aus meiner Kindheit – es liegt mir fern jetzt hier alles aufzuzählen.
Es geht mir (nicht mehr) darum, meine Eltern hier an den Pranger zu stellen.
Was ich möchte ist, dass vielleicht dem einen oder anderen der das hier liest, ein Licht aufgeht.
Vielleicht ist es ein „Oh, so ähnlich ist es mir auch gegangen“ – denn was einem selbst als Aneinanderreihung von Kleinigkeiten vorkommt, hat tatsächlich großes Gewicht – und es ist etwas, das das komplette Leben beeinflusst.
Manipulation, Geringschätzung, kleine, lieblose Aussagen, Vernachlässigung, Desinteresse und Abwertungen sind eine Abwärtzspirale mitten ins Leben.
Denn das Ergebnis ist, dass wir uns ein Leben lang klein fühlen, wertlos und unzulänglich. Oft gelingt es uns nicht auch nur ein kleines bisschen Selbstvertrauen aufzubauen, wir sind die geborenen – nein eher die gemachten – Opfer, und unsere Beziehungen zu anderen Menschen sind von Ängsten und dem Wissen um unsere eigene Wertlosigkeit geprägt.
Nachdem ich ausgezogen war hat es noch mindestens 10 Jahre gedauert bis ich auch nur begonnen habe zu verstehen, was da gelaufen ist. Ich hätte auch vorher nicht behauptet eine glückliche Kindheit zu gehabt zu haben, aber ich hätte bestimmt bestimmt nicht von Missbrauch geredet.
Missbrauchte Kinder werden verprügelt oder sexuell geschändet, und das ist mir alles zum Glück erspart geblieben. Verglichen damit hatte ich ja ein schönes Leben, oder?
Erst nach und nach habe ich verstanden was das mit mir gemacht hat. Nur langsam habe ich verstanden, dass sich Menschen mit mir abgeben auch wenn sie das gar nicht müssen. Langsam wurde mir klar warum ich immer das Opfer war. Ganz langsam habe ich begriffen, dass ich niemals davon ausgehe, dass jemand es gut mit mir meinen könnte. Dass ich niemals davon ausgehe für irgendjemanden oder irgendetwas gut genug zu sein.